Augen zu und durch

 

Da war diese Teergrube. Ein furchtbarer Ort, an heißen Tagen eingehüllt in den Gestank von Tierleichen. Sie befand sich am Geröllhang des Weitmarer Zechenplatzes.
Der Teer war butterweich, darüber stand etwas Wasser und darin steckten verwesende Kadaver von einst durstigen Vögeln, Mäusen, Wieseln und Igeln.
Einmal steckte zwischen all den besiegelten Schicksalen ein noch lebender Spatz. Ich weiß nicht mehr wie, aber ich friemelte ihn lebend da heraus.
Nun war das arme Vieh zwar gerettet, aber es war so hoffnungslos vom Teer verklebt, dass es eigentlich keine Chance hatte. Ich wusste aber, dass man Teerflecken mit Margarine weg bekam. Ich weiß nicht mehr woher der Topf Margarine plötzlich gekommen war - es waren noch ein paar andere Kinder dabei. Dann rieb ich mit unendlicher Geduld den Teer Schicht für Schicht aus dem Gefieder und irgendwann setzte ich den sauberen, wenn auch fettigen Spatz auf einen Ast, auf dass er allein zurecht käme.

 

Auf die Idee, die Grube ein für allemal zuzuschütten, war keiner gekommen.

Jedenfalls steckte eines heißen Sommertages ein noch lebender Igel in dem gleichen Schlamassel, angenehmer Weise nur mit den Vorderbeinen. Ich zog ihn heraus und nahm ihn mit. Eine heikle Angelegenheit, denn ich hatte nichts außer einer Badehose an.

An der Straßenecke, gegenüber des Hauses Schrader, traf ich auf ein paar Spielkameraden.

Wir setzten uns auf die Bordsteinkante und freuten uns, das zutrauliche Tier in unserer Mitte zu haben. Einer holte eine Nacktschnecke unter einem Stein hervor, ein anderer rannte weg und übergab sich, als unser kleiner Freund sie schmatzend verspeiste.

Plötzlich aber standen Gröne, Hurnicki, Schmidtner und ein Junge, den sie Bimbo nannten über uns. Bimbo und Schmidtner wohnten hinter der Brennesselbrache der Gärtnerei Stankowitz in einem maroden Fachwerkhaus auf Bochumer Gebiet. Schon ging es wie nicht anders zu erwarten los:

"Heeey! Wat is datt denn Schönet?" - Dann wurde allerhand dummes Zeug abgelassen, wie man einen Igel möglichst unterhaltsam vom Leben zum Tod befördern könnte.
Schließlich kündigte Gröne an, man werde ihn gleich nach Zigeunerart lebendig in Lehm einpacken und in der Glut eines Lagerfeuers backen.

"Los Bimbo, pack ihn dir! Wir gehen."

Der weißblonde Bimbo streckte die Hände zaghaft nach dem pieksigen Kerlchen aus, aber ich war schneller, riss es an mich und drückte es schützend an meine nackte Brust. Die Stacheln standen kreuz und quer.

"Das macht ihr nicht, ihr Idioten!!!", schrie ich aus vollem Hals. Dann rannte ich los, in Richtung Bochum. Die Idioten - alle in kurzen Hosen, mit Umzingelungs-Taktik hinter mir her. Ich direkt auf die Brennesselbrache zu, hielt unvermindert das Tempo. Die Nesseln standen bis zum Gesicht. Gar keine Frage: Zähne zusammen, Augen zu und durch! Damit hatte keiner gerechnet! Den Igel an die Brust gepresst und mit nichts weiter als der Badehose am Leib - egal was kam - bis zur Mitte durchgerannt! Ich ließ mich fallen.
Erst jetzt brannte mein ganzer Körper im Rhythmus des Herzschlags.
Aber das zählte nicht.
Die Verfolger gaben auf, der Igel war gerettet. Der Rest liegt in Vergessenheit.

Halt, eins hat sich bis heute gehalten: Augen zu und durch! Dies war fortan mein Leitspruch, auch während meiner Ausbildung zum Fernmeldehandwerker.
Von einem Kollegen weiter getragen, wurde durch eine aus Wanne-Eickel stammende Sängerin ein Schlagertitel daraus...

Himbeermarmelade

 

Mit diesem Kapitel will ich meine Kindergeschichten abschließen, denn das Ereignis brachte mich auf die Männerstation des Martin-Luther-Krankenhauses.
Ich war zwölf und man hatte mich eigentlich für ein Kinder-Ferienlager auf Norderney vorgesehen.

Zu dieser Zeit lebte ich, wegen der dort erhofften Ruhe, bei meiner Großmutter, um die Realschule zu schaffen und war nur zu Besuch im elterlichen Eppendorf.

Es geschah am gleichen Abhang des Zechenplatzes, an dem auch die Teergrube gelegen hatte. Die war inzwischen überschüttet und zugewuchert. Dass ich dort mindestens zweimal selbstlos Gutes getan hatte, war dem blinden Schicksal entgangen.

 

Der Hang lag jetzt überwiegend unter wilden Himbeersträuchern.

Nur von weitem sahen die Beeren üppig aus. Hatte man sich dorthin bemüht, waren sie genauso mickrig, madig, unreif oder faul wie dort, wo man hergekommen war, und war dies nicht der Fall, fielen sie schon beim Angucken eine Etage tiefer.
Man hatte Mühe, sich mit den Füßen auf den spitzen Asphaltbrocken zu halten und zugleich die Ameisen abzuwehren. Trotzdem hatte ich den Ehrgeiz, Marmelade zu kochen, und wenn das Glas sich noch so langsam füllte.
Ich stand also mit meinem Weckglas mittendrin. Wieder hatte ich eine vermeintlich lohnendere Stelle entdeckt, brauchte aber beide Hände, um mich vorzukämpfen. Ich rief Bernd. Bernd war mein zweiter Bruder. Wilfried, mein erster Bruder und Jürgen (genannt Kossi) unser gemeinsamer Freund, waren auch dabei.

"Watt sollich?", fragte Bernd. Er hatte nichts mit Sammeln im Sinn, sondern mümmelte sich so durch die Gelegenheiten. Ich sagte, er solle mal das Glas halten, damit ich besser voran käme.

"Und watt habbich davon?"

"Mammelaade."

"Ehrlich?"

"Ja, ehrlich."

Essen war er nie abgeneigt. Er nahm das Glas und ich brach vorweg eine Schneise, auf der er mir folgen sollte. Nach einer Weile schaute ich zurück. Kein Bernd mehr hinter mir. Ich stieg zurück, spähte umher und dann sah ich ihn: ganz oben auf der Halde stand er und fraß das Weckglas leer!

"Aufhörn! Meine Himbeern her!", schrie ich.

Er dachte nicht daran und teilte auch noch welche an Jürgen und Wilfried aus.

Ich schrie: "Hör auf, oder ich polier dir die Fresse du Fressklötsch!"

"Hol sie dir doch, hol sie dir doch... bäbäbäbää!"

Es war entsetzlich, anzusehen, wie mein mühseliger Ertrag in diesen Banausenmäulern verschwand. Wie eine Rakete schoss ich an einer anderen Stelle den Hang hinauf, indessen lief Bernd im großen Bogen andersrum herunter und an mir vorüber. Eigentlich hatte er keine Chance. Ich würde ihn in ein paar Sekunden haben und fürchterlich verdreschen. Er wusste was ihm bevorstand und stopfte im Hinunterrennen die Himbeeren nur so in sich hinein, Mund und Hände rot verschmiert. Dabei ließ er natürlich etliches fallen.

"Mach dein Testament!", schrie ich. Ich war wirklich phänomenal flink und reaktionsschnell, konnte steilste Waldhänge in vollem Tempo herunterrasen, Hindernissen wie ein Hase ausweichen. Auf diese Kunstfertigkeit verließ ich mich beim Ablauf über die Asphaltbrocken und stürzte plötzlich kopfüber in die Tiefe. Unten angekommen blieb ich reglos liegen.

"Au Hammu, tut mir Leid." - Es war Bernd. Die Vorwürfe blieben mir im Hals stecken. Kossi und Wilfried kamen dazu, ihre Gesichter ein einziges Mitgefühl. Ich konnte nicht aufstehen. Alles war taub.

"Hast du ne Kippe?", fragte ich Kossi.

"Klar."

Er zog eine platte Packung Juno aus dem Socken. Ohne Filter. Ich inhalierte besonders tief. "Aaaah, kann weitergehen", sagte ich nachdem ich aufgeraucht hatte. Wieder auf den Beinen, bemerkte ich eine seltsame Dumpfheit der Schulter und dann sah ich die Bescherung: Die Haut ragte spitz auf, wie über einer Zeltstange. Ich berührte das Ding. Es war vollkommen gefühllos. Kurzerhand drückte ich den komischen Knochen herunter und er blieb in der Position. Alles schien gut gegangen. Dann erwachte der Schmerz. Erst klopfend, stumpf und groß, dann immer konzentrierter, dann siedend heiß und stechend scharf. Ich begann zu zittern und zu heulen.

"Du hast ´n Schlüsselbeinbruch", sagte Kossi ernst. Er schlug vor, eine Indianertrage zu bauen und mich nach Hause zu schaffen.

"Holt lieber den Papa," sagte ich zu meinen Brüdern. Sie gingen, ich wartete. Nach einer Ewigkeit kamen sie mit meinem Vater zurück. Der hatte gerade 12 bis 16 Stunden auf dem Bau hinter sich. Nun stand er da: Die Hände schwarz, die Finger krumm, die roten Haare zu Berge. Durch die Ohren leuchtete die Sonne: "Na, Lazarus, nich aufgepasst?"

Ich nickte: "Hm-mm."

"Dann komm ma mit!"

"Geht nich," sagte ich nach zwei Schritten.

"Geht nich gippt nich," ermutigte er mich.

Ich biss die Zähne zusammen und beeilte mich, bergauf zur Schloßstraße Schritt mit ihm zu halten.

"Zack-Zack! Schlaf nich ein! Ich happ noch wat anderet zu tun..."

Plötzlich sprang die eine Hälfte meines Knochens wieder hoch.

"Ach du Scheiße!", fiel meinem Vater die Kinnlade nach unten.

Er nahm mich auf die Arme und trug mich zum Auto, ich glaube ein alter Ford Transit, den er von seinem Chef geliehen hatte. Der Motor heulte auf. "RRRRatz-FRRRESSS" machten die morschen Getriebezähne.

Ab ging's ins Martin-Luther, und Norderney konnte ich mir von der Backe putzen.